Sonntag, 24. Januar 2016
Jeder hat seine eigene,
geheime, persönliche Welt.
Es gibt in dieser Welt den besten Augenblick
es gibt in dieser Welt die schrecklichste Stunde
aber dies alles ist uns verborgen.
Und wenn ein Mensch stirbt,
dann stirbt mit ihm sein erster Schnee,
und sein erster Kuß und sein erster Kampf...
All das nimmt er mit sich.
Was wissen wir über die Freunde, die Brüder,
was wissen wir schon von unseren Liebsten?
Und über unseren eigenen Vater
wissen wir, die wir alles wissen nichts!
Die Menschen gehen fort...
Da gibt es keine Rückkehr.
Ihre geheimen Welten können nicht wiedererstehen.
Und jedesmal möchte ich von neuem
diese Unwiederbringlichkeit hinausschreien.
J. Jewtuschenko
Samstag, 23. Januar 2016
Anmut und Behagen (2)
Unter jeder gespielten Note hätte man eine ganze Geschichte
von Fingerübungen, Anstrengungen, Kämpfen entdecken können;
aber jede Note enteilte,als sei ihre Aufgabe erledigt,
wenn sie durch ihren genauen, vollkommenen Klang den Weg
für eine andere vollkommene Note gebahnt.
Jede dauerte solange es nötig war.
Keine ging zu schnell los.
Keine verzögerte sich.
Sie dienten einem unmerklichen und allmächtigen Hauch.
Ich sah auch schlechte Künstler,
verkrampft über zu schwierigen Stücken.
Ihr Spiel offenbarte ihre ganze Mühsal.
Vor lauter Hinsehn hörte man die Musik kaum.
Ein großer Schmerz für uns ist es,
daß wir deine schöne Musik so freudlos spielen,
Herr, der du uns Tag um Tag bewegst.
Daß wir immer noch bei den Tonleitern sind,
bei der Zeit der anmutslosen Bemühungen.
Daß wir zwischen den Menschen hindurchgehn
wie schwerbeladene, ernste, überanstrengte Leute.
Daß wir es nicht fertigbringen, über unserm Winkel der Welt,
während der Arbeit, der Hast, der Ermüdung
etwas auszubreiten wie
Anmut und Behagen der Ewigkeit.
Madeleine Delbrêl
Freitag, 22. Januar 2016
Donnerstag, 21. Januar 2016
Anmut und Behagen (1)
Unser großer Schmerz ist, daß wir
dich ohne Freude lieben,
o du, von dem wir «glauben», du
seist unser Jubel;
daß wir ohne Behagen und Anmut
an deinen Willen gekrampft sind,
der unsere Tage bewegt.
Ein großer Schmerz, Herr, ist es
für uns,
einen Künstler zu hören,
wie er die Menschenmusik ohne
Ermüdung spielt,
indem er sich von ihr tragen läßt,
und durch die Akrobatik der
Harmonien hindurch
einer Welle von Liebe begegnet,
die doch nur Menschenmaß hat.
Von ihm vielleicht sollten wir es
lernen,
deine Liebe zu spielen,
wir, für die diese Liebe zu groß,
zu schwer ist.
Ich sah einen, der eine
Zigeunerweise spielte
auf einer Geige aus Holz,
Mit Händen aus Fleisch.
In dieser Geige trafen sich sein
Herz und die Musik.
Die Zuhörer hätten niemals erraten
können,
daß die Melodie schwierig war,
Und wie lang er Tonleitern üben
mußte,
seine Finger verrenken,
um die Noten und Klänge sich in
die Fibern
seines Gehirns einprägen zu
lassen.
Sein Körper war fast ohne
Bewegung,
nur seine Finger, seine Arme.
Wenn er sich lang bemüht hatte,
die Wissenschaft
der Musik zu besitzen, so war es
jetzt die Musik,
die ihn
besaß, ihn belebte,
ihn aus sich selber hinauswarf wie
eine tönende Entzückung.
Madeleine Delbrêl
Mittwoch, 20. Januar 2016
Ein in Meditation erfahrener Mann wurde einmal gefragt;
warum er trotz seiner vielen
Beschäftigungen immer so gesammelt sein könne.
Dieser sagte:
Wenn ich stehe, dann stehe ich,
wenn ich gehe, dann gehe ich,
wenn ich sitze, dann sitze ich,
wenn ich esse, dann esse ich,
wenn ich spreche, dann spreche ich ...
Da fielen ihm die Fragesteller ins Wort und sagten:
Das tun wir auch, aber was machst
du darüber hinaus ?
Er sagte wiederum:
Wenn ich stehe, dann stehe ich,
wenn ich gehe, dann gehe ich,
wenn ich sitze, dann sitze ich,
wenn ich esse, dann esse ich,
wenn ich spreche, dann spreche ich ...
Wieder sagten die Leute: Das tun wir doch auch. Er aber sagte zu ihnen:
Nein,
wenn ihr sitzt, dann steht ihr schon,
wenn ihr steht, dann lauft ihr schon,
wenn ihr lauft, dann seid ihr schon
am Ziel..."
Dienstag, 19. Januar 2016
Zuhause sein
heißt einen Ort zu besitzen,
um lieb zu haben,
Raum bekommen zum Träumen
und Grübeln
zum Reden geradeheraus,
zum Plaudern und Tratschen
einfach wenn man Lust dazu hat,
heißt füreinander tätig sein,
sich manchmal sehr zu plagen -
das aber viel eher dürfen als
müssen.
Zuhause bedeutet singen
dürfen, aber zu Zeiten auch still
sein können, selig in Frieden
Da kann das Auf und Nieder
seinen eigenen Rythmus haben
ungestört, ohne die Liebe in Stücke
zu schlagen.
Und wenn auch einmal ein böses Wort
ins Haus kommt
schaut auch die Versöhnungsgeste herein
wenn die Stille oft wehtut oder
ein Wort zu verwunden droht
kann das Herz doch sprechen mit
einem Kuß und einem freundlichen Blick.
Herman Mertens
Montag, 18. Januar 2016
Sonntag, 17. Januar 2016
Samstag, 16. Januar 2016
Was würden Sie tun,
wenn Sie das neue Jahr regieren könnten?
Ich würde vor Aufregung wahrscheinlich
Die ersten Nächte schlaflos verbringen
Und darauf tagelang ängstlich und kleinlich
Ganz dumme, selbstsüchtige Pläne schwingen.
Dann - hoffentlich - aber laut lachen
Und endlich den lieben Gott abends leise
Bitten, doch wieder nach seiner Weise
Das neue Jahr göttlich selber zu machen.
Joachim Ringelnatz, 1883-1934
Freitag, 15. Januar 2016
Wir sägten Holz, griffen dabei nach einem Ulmenbalken und schrien auf.
Seit im vorigen Jahr der Stamm gefällt wurde,
war er vom Traktor geschleppt und in Teile zersägt worden,
man hatte ihn auf Schlepper und Lastwagen geworfen,
zu Stapeln gerollt, auf die Erde geworfen -
aber der Ulmenbalken hatte sich nicht ergeben!
Er hatte einen frischen grünen Trieb hervorgebracht -
war er vom Traktor geschleppt und in Teile zersägt worden,
man hatte ihn auf Schlepper und Lastwagen geworfen,
zu Stapeln gerollt, auf die Erde geworfen -
aber der Ulmenbalken hatte sich nicht ergeben!
Er hatte einen frischen grünen Trieb hervorgebracht -
eine ganze künftige Ulme
oder einen dichten, rauschenden Zweig.
Wir hatten den Stamm bereits auf den Bock gelegt, wie auf einen Richtblock;
doch wir wagten nicht, mit der Säge in seinen Hals zu schneiden.
Wie hätte man ihn zersägen können?
Wie sehr er doch leben will - stärker als wir!
Wie sehr er doch leben will - stärker als wir!
Alexander Solschenizyn
Donnerstag, 14. Januar 2016
„Willst du uns denn nicht ,Frohe Weihnachten' wünschen?"
wurde der Meister gefragt.
Er warf einen Blick auf den Kalender, sah, dass Donnerstag war, und sagte:
„Ich möchte euch lieber einen ,Frohen Donnerstag' wünschen."
Das verletzte das Empfinden der Christen im Kloster, bis der Meister erklärte:
„Millionen werden sich nicht über den heutigen Tag,
sondern über Weihnachten freuen,
wodurch ihre Freude von kurzer Dauer ist.
Aber für alle,
die sich über den heutigen Tag zu freuen gelernt haben, ist jeder Tag ein Weihnachten."
Anthony de Mello
Mittwoch, 13. Januar 2016
Lied zur Ermutigung
Lange
wurdest du um die türlosen
Mauern der
Stadt gejagt.
Du fliehst
und streust
die
verwirrten Namen der Dinge
hinter
dich.
Vertrauen,
dieses schwerste
A B C
Ich mache
ein kleines Zeichen
in die
Luft
unsichtbar,
wo die
neue Stadt beginnt,
Jerusalem
die
goldene
aus
Nichts.
Hilde Domin
Dienstag, 12. Januar 2016
Ich bin kraftlos,
vertrauensmüde,
ohne Freude,
Ohnmacht erfüllt
mein leergebranntes Herz.
Aus der Tiefe der Einsamkeit rufe ich,
Herr
zu Dir:
gib mir einen Menschen.
Das Vertrauen ist versiegt.
Aber ohne Vertrauen kann Freundschaft nicht bestehen.
Herr, gib einen Funken Hoffnung
in die ausgebrannte Gegenwart!
Reiße mich in Deine Zukunft!
Wenn ich aus der Ohnmacht des Vertrauens
aus der Tiefe zu Dir rufe:
zeige Dich in einem Menschen.
Ingeborg Pacher
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