Mittwoch, 12. November 2014




Anmut und Behagen (1)

Unser großer Schmerz ist, daß wir dich ohne Freude lieben,
o du, von dem wir «glauben», du seist unser Jubel;
daß wir ohne Behagen und Anmut
an deinen Willen gekrampft sind,
der unsere Tage bewegt.
Ein großer Schmerz, Herr, ist es für uns,
einen Künstler zu hören,
wie er die Menschenmusik ohne Ermüdung spielt,
indem er sich von ihr tragen läßt,
und durch die Akrobatik der Harmonien hindurch
einer Welle von Liebe begegnet, die doch nur Menschenmaß hat.
Von ihm vielleicht sollten wir es lernen,
deine Liebe zu spielen,
wir, für die diese Liebe zu groß, zu schwer ist.

Ich sah einen, der eine Zigeunerweise spielte
auf einer Geige aus Holz, 
mit Händen aus Fleisch.

In dieser Geige trafen sich sein Herz und die Musik.
Die Zuhörer hätten niemals erraten können,
daß die Melodie schwierig war,
Und wie lang er Tonleitern üben mußte,
seine Finger verrenken,
um die Noten und Klänge sich in die Fibern
seines Gehirns einprägen zu lassen.

Sein Körper war fast ohne Bewegung,
nur seine Finger, seine Arme.
Wenn er sich lang bemüht hatte, die Wissenschaft
der Musik zu besitzen,
so war es jetzt die Musik,
die ihn besaß, ihn belebte,
ihn aus sich selber hinauswarf wie eine tönende Entzückung.

Unter jeder gespielten Notehätte man eine ganze Geschichte
von Fingerübungen, Anstrengungen, Kämpfen entdecken können;
aber jede Note enteilte,als sei ihre Aufgabe erledigt,
wenn sie durch ihren genauen, vollkommenen Klang den Weg
für eine andere vollkommene Note gebahnt. 

Jede dauerte solange es nötig war.
Keine ging zu schnell los.
Keine verzögerte sich.
Sie dienten einem unmerklichen und allmächtigen Hauch.



Madeleine Delbrêl

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