Dienstag, 28. Mai 2013




Aber es werden Menschen kommen -
denen das Zeitauf Zeitab der Fabriken gleichgültig ist -
sie wollen nicht auf den Märkten einkaufen –
doch sie fragen nach dem Millionen Jahre alten Wind -

ob ihr noch
Vögel - Fische - Füchse - Sumpfdotterblumen
aufgehoben habt -


 wenn anderswo alle Wälder zerstückelt sind -
alle Städte über die Ränder getreten –
alle Täler überquellen vom Müll -

könnt ihr noch Wetterbuchen liefern?
einen unbegradigten Fluß?
Mulden ohne schwelenden Abfall?
Hänge ohne Betongeschwüre?
Seitentäler ohne Gewinn?

habt ihr noch immer nicht genug Einkaufszentren in Wiesen gestreut -
Möbelmärkte zwischen Skabiosen –
nicht genug Skilifte ohne Schnee -
Nachschubstraßen für Brot und Spiele -
Panzerschneisen hügelentlang? -

Wenn ihr die Schafe aussterben laßt - stirbt der Wacholder - Silberdisteln -
bald wird man diese Namen aussprechen wie Joringel Jorinde als Kind -

Zu den Ammoniten im Steinbruch wird man wie nach Eleusis gehen -
eure Geschichtslosigkeit war ein Windschatten -

Abseits der Erosion des Jahrtausends –
könnt ihr denen - die zu euch kommen -
eine Wacholderstunde anbieten - erdalterlang -
falls ihr den Augenblick
- euren -
nicht zementiert.


Margarete Hannsmann

Montag, 27. Mai 2013





Nichts ändern

Hören Sie ruhig damit -auf, die Wirklichkeit ändern zu wollen. Hören Sie damit auf, andere ändern zu wollen.
Wir verwenden unsere ganze Zeit und Kraft auf den Versuch, äußere Umstände verändern zu wollen; unsere Ehefrauen, Chefs, Freunde, Feinde - eben die anderen - umzukrempeln.
Wir müssen nichts ändern. Die negativen Gefühle gibt es nur in Ihnen.
Niemand auf der Welt hat die Macht, Sie unglücklich zu machen. Es gibt nichts auf der Welt, das die Macht besäße, Ihnen zu schaden oder Sie zu verletzen: kein Ereignis, keine Umstände, keine Situation, auch kein anderer Mensch.
Aber niemand hat es Ihnen gesagt; vielmehr erzählte man Ihnen das Gegenteil. Deswegen haben Sie jetzt diese Probleme; deswegen schlafen Sie. Man hat Sie über diese Selbstverständlichkeit im unklaren gelassen.

Sogar die Sehnsucht nach Freiheit ist eine Fessel.
Niemand ist wirklich frei,
der sich um seine Freiheit sorgt.
Nur die Zufriedenen sind frei.

Anthony de Mello

Freitag, 24. Mai 2013




O großer Geist, dessen Stimme ich in den Winden vernehme
und dessen Atem der ganzen Welt Leben spendet, höre mich.


Ich trete vor dich hin als eines deiner vielen Kinder.
Ich bin klein und schwach. Ich bedarf deiner Kraft und Weisheit.

Laß mich in Schönheit wandeln
und meine Augen immer den roten purpurnen Sonnenuntergang schauen.
Laß meine Hände die Dinge verehren, die du gemacht hast,
und meine Ohren deine Stimme hören.

Schenke mir Weisheit, daß ich die Lehre,
die du in jedem Blatt und jedem Felsen verborgen hast,
erkennen möge.



Gebet der Sioux, nach Jörg Zink

Donnerstag, 23. Mai 2013




Trugbilder

Was ist die Ursache des Bösen?"

„Unwissenheit", sagte der Meister.

„Und wie wird sie beseitigt?"

„Nicht durch Anstrengung, sondern durch Licht;
durch Verstehen, nicht durch Handeln."

Und nach einer Weile fügte der Meister hinzu:
„Das Zeichen des Erleuchtetseins ist Friede -
du hörst auf zu fliehen,
sobald du erkennst, dass du nur von den Trugbildern verfolgt wirst,
die deine Ängste erfunden haben."
 
Anthony de Mello

Mittwoch, 22. Mai 2013





Nur für heute
werde ich ein genaues Programm aufstellen.
Vielleicht halte ich mich
nicht genau daran,
aber ich werde es aufsetzen -
und ich werde mich
vor zwei Übeln hüten:
der Hetze und der Unentschlossenheit.

Johannes XXIII

Dienstag, 21. Mai 2013



Das sichere Fundament

"Ich sehne mich nach einem festen Grund, einem sicheren Fundament für mein Leben."

„Sieh es doch so an", sagte der Meister. „Was ist der feste Grund für den Zugvogel, der Kontinente überquert? Was ist das sichere Fundament für den Fisch, der vom Fluss in das Meer getragen wird?"

Anthony de Mello

Samstag, 18. Mai 2013





Der erste,
der uns jenseits der chinesischen Mauer begegnete,
war ein kleines Männlein aus braunem Sandstein.

Mit verflochtenen Beinen hockte es da,
lächelte mit beinah geschlossenen Lidern,
und obschon ich nicht allzu genau weiß,
worin ein Heiliger besteht,
sagte ich sofort zu Bin:

„Sieh da! Ein Heiliger."

Bin nickte.

Er nahm es platterdings an,
man wüßte, was ein Heiliger ist,
und nickte, wie wenn man sagen würde:
Sieh da, ein Regenbogen!

„Wenn sie so dasitzen", fragte ich Bin,
„was machen sie eigentlich?"
(Oh, diese westliche Frage!)

Bin sagte:

„Sie sitzen so da -
zum Beispiel,
wenn die Sonne untergeht
über den violetten Hügeln der Wüste
,
und schauen die Sonne, nichts weiter.

Sie schauen.
Sie denken nichts anderes als eben die Sonne,
so sehr, so innig, so ganz und gar,
daß sie die Sonne noch immer und immer sehen,
wenn jene, die wir die wirkliche nennen,
lange schon untergegangen ist.

Sie sitzen so da:
sie können sie jederzeit wieder aufgehen lassen."


Max Frisch

Freitag, 17. Mai 2013





Nur für heute
werde ich keine Angst haben.
Ganz besonders
werde ich keine Angst haben,
mich an allem zu freuen,
was schön ist -
und ich werde an die Güte glauben.

Johannes XXIII

Mittwoch, 15. Mai 2013





Die letzten Paradiese
werden angepriesen und angeflogen.
In Nordsibirien Wasser, das noch nicht gechlort ist,
auf Bali eine Palme, die nicht im Kübel steht,
im Ruhrgebiet verkauft man Stille und Luft,
nicht in Höchst hergestellt,
bei Assisi gibt's eine kleine Kapelle,
im Main soll man bei Hanau einen Fisch gesehen haben,
die Leute werden immer anspruchsvoller,
jetzt wollen sie sogar Brot essen.

Lothar Zenetti

Dienstag, 14. Mai 2013








Nur für heute

werde ich fest glauben -
selbst wenn die Umstände
das Gegenteil zeigen sollten - ,
dass die gütige Vorsehung Gottes
sich um mich kümmert,
als gäbe es sonst
niemanden auf der Welt.

Johannes XXIII

Montag, 13. Mai 2013





Schon wieder Käsebrote!
Nicht-Erleuchtete erkennen nicht, dass sie selbst die Ursache all ihrer Sorgen sind.

In der Fabrik war Mittagspause, und ein Arbeiter öffnete trübselig sein Lunchpaket. „Ach nein", sagte er laut, „schon wieder Käsebrote."

So ging es zwei-, drei-, viermal hintereinander. Dann sagte ein Kollege, der das Gebrumme des Mannes gehört hatte: „Wenn du Käsebrote so sehr hasst, warum sagst du dann nicht deiner Frau, sie solle dir andere Schnitten machen?"

„Weil ich nicht verheiratet bin. Ich mache mir diese Brote selbst."
 
Anthony de Mello

Freitag, 10. Mai 2013




Befragt über sein Verhältnis zur Natur, sagte Herr K.:

„ich würde gern mitunter aus dem Haus tretend ein paar Bäume sehen.
Besonders da sie durch ihr der Tages- und Jahreszeit entsprechendes Andersaussehen
einen so besonderen Grad von Realität erreichen.

Auch verwirrt es uns in den Städten mit der Zeit,
immer nur Gebrauchsgegenstände zu sehen,
Häuser und Bahnen, die unbewohnt leer, unbenutzt sinnlos wären.

Unsere eigentümliche Gesellschaftsordnung läßt uns ja auch die Menschen
zu solchen Gebrauchsgegenständen zählen,
und da haben Bäume wenigstens für mich, der ich kein Schreiner bin,
etwas beruhigend Selbständiges, von mir Absehendes,
und ich hoffe sogar, sie haben selbst für die Schreiner
einiges an sich, was nicht verwertet werden kann."

 Bertolt Brecht

Donnerstag, 9. Mai 2013




Diogenes
Der Philosoph Diogenes aß zum Abendbrot Linsen. Das sah der Philosoph Aristippos, der ein angenehmes Leben führte, indem er dem König schmeichelte.

Sagte Aristippos: „Wenn du lerntest, dem König gegenüber unterwürfig zu sein, müsstest du nicht von solchem Abfall wie Linsen leben."

Sagte Diogenes: „Wenn du gelernt hättest, mit Linsen auszukommen, brauchtest du nicht dem König zu schmeicheln."
 

Mittwoch, 8. Mai 2013





Der Arzt weiß es besser

Der Arzt beugte sich über die leblose Gestalt im Bett. Dann richtete er sich auf und sagte: „Es tut mir leid, aber ich muss Ihnen sagen, Ihr Mann lebt nicht mehr, meine Liebe."

Von der leblosen Gestalt im Bett kam ein schwacher Protest: „Doch, ich lebe noch."

„Halt den Mund", sagte die Frau, „der Arzt weiß das besser als du."
 
Anthony de Mello

Dienstag, 7. Mai 2013




Nur für heute
werde ich etwas tun,
für das ich keine Lust habe zu tun:
sollte ich mich in meinen Gedanken beleidigt fühlen,
werde ich dafür sorgen,
dass es niemand merkt.

Johannes XXIII

Samstag, 4. Mai 2013




Wir Steine
wenn einer uns hebt
hebt er Urzeiten empor-

wenn einer uns hebt
hebt er den Garten Eden empor-

wenn einer uns hebt
hebt er Adams und Evas Erkenntnis empor
und der Schlange staubessende Verführung.

Wenn einer uns hebt
hebt er Billionen Erinnerungen in seiner Hand
die sich nicht auflösen im Blute
wie der Abend. 

Denn Gedenksteine sind wir
alles Sterben umfassend. 

Wenn einer uns wirft -
wirft er den Garten Eden -
den Wein der Sterne -
die Augen der Liebenden und allen Verrat-

Wenn einer uns wirft im Zorne
so wirft er Äonen gebrochener Herzen
und seidener Schmetterlinge. 

Hütet euch, hütet euch
zu werfen im Zorn mit einem Stein -
unser Gemisch ist ein vom Odem Durchblasenes.

Es erstarrte im Geheimnis
aber kann erwachen an einem Kuß.

Nelly Sachs

Freitag, 3. Mai 2013




Nur für heute
werde ich eine gute Tat verbringen,
und ich werde es
niemandem erzählen.

Johannes XXIII

Donnerstag, 2. Mai 2013




Schubladen
Schubladen und Etiketten sind sehr wichtig für uns. „Ich bin Sozialdemokrat", sagen wir.
Doch sind Sie es wirklich? Sie wollen doch nicht sagen, dass Sie, wenn Sie die Partei wechseln, ein neues „Ich" besitzen.
Ist es nicht dasselbe „Ich" mit neuen politischen Überzeugungen?

Ich erinnere mich an einen Mann, der seinen Freund fragte: „Wirst du sozialdemokratisch wählen?"

Der Freund antwortete: „Nein, ich werde für die Christdemokraten stimmen. Mein Vater war Christdemokrat, mein Großvater war Christdemokrat und mein Urgroßvater war schon Christdemokrat."

Darauf erwiderte der Mann: „Eine seltsame Logik! Wenn dein Vater Pferdedieb war, dein Großvater Pferdedieb war, und dein Urgroßvater Pferdedieb war, was wärst du dann?"

„Ach", entgegnete der Freund, „dann wäre ich Sozialdemokrat."
 
Anthony de Mello

Mittwoch, 1. Mai 2013







Man muß weggehen können
und doch sein wie ein Baum:

als bliebe die Wurzel im Boden,
als zöge die Landschaft und wir ständen fest.

Man muß den Atem anhalten,
bis der Wind nachläßt
und die fremde Luft um uns zu kreisen beginnt,
bis das Licht von Spiel und Schatten,
von Grün und Blau,
die alten Muster zeigt
und wir zuhause sind,

wo es auch sei,

und niedersitzen können und uns anlehnen,
als sei es an das Grab
unserer Mutter.

 

Hilde Domin