Samstag, 18. Mai 2013





Der erste,
der uns jenseits der chinesischen Mauer begegnete,
war ein kleines Männlein aus braunem Sandstein.

Mit verflochtenen Beinen hockte es da,
lächelte mit beinah geschlossenen Lidern,
und obschon ich nicht allzu genau weiß,
worin ein Heiliger besteht,
sagte ich sofort zu Bin:

„Sieh da! Ein Heiliger."

Bin nickte.

Er nahm es platterdings an,
man wüßte, was ein Heiliger ist,
und nickte, wie wenn man sagen würde:
Sieh da, ein Regenbogen!

„Wenn sie so dasitzen", fragte ich Bin,
„was machen sie eigentlich?"
(Oh, diese westliche Frage!)

Bin sagte:

„Sie sitzen so da -
zum Beispiel,
wenn die Sonne untergeht
über den violetten Hügeln der Wüste
,
und schauen die Sonne, nichts weiter.

Sie schauen.
Sie denken nichts anderes als eben die Sonne,
so sehr, so innig, so ganz und gar,
daß sie die Sonne noch immer und immer sehen,
wenn jene, die wir die wirkliche nennen,
lange schon untergegangen ist.

Sie sitzen so da:
sie können sie jederzeit wieder aufgehen lassen."


Max Frisch

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