Ein gesundes inneres Leben
In einer atheistischen Umwelt wird das «innere Leben» immerfort auf die
Dinge verwiesen, die geglaubt und nicht bloß vorgestellt werden müssen; Dinge,
denen wir uns nur anzupassen und nicht das Geringste beizufügen haben.
Es wird ständig angewiesen, die Praxis dessen zu sein, was das
übernatürliche Leben Geheimstes in uns hat - kein intellektualistisch
überfrachtetes geistliches Leben; es hat ins Lot gebracht zu werden in Bezug
auf die Wirklichkeit Gottes.
Es bleibt für uns innerlich, hört aber auf, Innenschau zu sein.
Autopsien können beim Studium der Medizin behilflich sein; zu leben
lehren sie nicht. Wir begreifen jetzt, dass der Wille, zuerst und vor allem ein
inneres Leben zu führen, dasselbe wäre, wie wenn einer nach einer anatomischen
Tafel leben wollte: etwa des von den übrigen Lebensfunktionen isolierten
Atmungssystems, des isolierten Kreislaufs.
Wir entdecken, dass das innere Leben der bloße, aber notwendige
Innenaspekt eines Gesamtlebens ist, seiner Ökonomie, seiner Dynamik, seiner
Wirksamkeit.
Weil die Lebensbedingungen unseres Nächsten die Verkündigung für uns zu
einer fraglosen Notwendigkeit machen, gibt es keine Möglichkeit mehr, das
Apostolat zu verdächtigen, in ihm die mögliche Wucherung eines zum Selbstzweck
erhobenen Innenlebens zu sehen.
Die beiden Gebote: «Du sollst den Herrn deinen Gott lieben» und «Du
sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst», klemmen uns zwischen zwei
Imperative, die nicht unvereinbar sein können, da sie doch das Grundgesetz
unseres Lebens bilden; sie klemmen uns in ein unerlässliches Tun, in eine
Leistung, von der nichts uns entschuldigen kann.
Sie klemmen uns in den Akt der Verkündigung, in eine Leistung, an der
nichts unser eigen ist, und doch alles durch uns getan werden muss beim Einsatz
für das Evangelium.
Von hier aus erhellt sich für uns der Sinn des «inneren Lebens»:
wirklich als der Kern eines Lebens, nicht bloß seiner Tätigkeiten, seiner
Bewegung, sondern tiefer: als Kern eines zur vollen Reife gelangten Lebens, das
sein Werk vollbringt, seine Frucht zeitigt.
So sind die Forderungen des Glaubens endlich versammelt, und sie
sammeln uns. Sie spalten uns nicht länger.
Madeleine Delbrel
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen