Mittwoch, 12. Dezember 2012




THANH THUYS APFEL

Heute kamen drei Kinder aus dem Dorf, zwei Mädchen und ein Junge, und wollten mit Thanh Thuy spielen. Alle vier rannten zum Hügel hinter dem Haus, um dort zu spielen. Nach vier Stunden erst kamen sie zurück und wollten etwas trinken.

Ich nahm die letzte Flasche von unserem selbstgemachten Apfelsaft und schenkte allen ein Glas ein, zuletzt Thuy. 
Sie hatte nun den Rest vom Boden der Flasche bekommen; er enthielt etwas Fruchtfleisch und wer eingetrübt. Sie schmollte und wollte den Saft nicht trinken. 
So lief sie mit den anderen Kindern zurück zum Hügel, ohne etwas getrunken zu haben.

Eine halbe Stunde später, als ich gerade in meinem Zimmer meditierte, hörte ich sie rufen. Sie wollte gern ein Glas Wasser trinken, aber auch auf Zehenspitzen reichte sie noch nicht an den Wasserhahn heran. Ich erinnerte sie an ihr Glas Saft auf dem Tisch und bat sie, dieses doch zuerst zu trinken. 

Sie drehte sich zum Glas um und stellte fest, daß das Fruchtfleisch sich gesetzt hatte und der Saft ganz klar und appetitlich aussah. 

So ging sie zum Tisch und nahm das Glas in beide Hände. Sie trank es zur Hälfte aus, setzte es ab und sagte:
 „Ist das ein anderes Glas, Onkel Mönch?“ (eine übliche Anrede vietnamesischer Kinder, wenn sie mit einem älteren Mönch reden). 
„Nein“, erwiderte ich, „es ist dasselbe Glas. Es hat hier nur eine Weile gestanden, und nun ist der Satt ganz klar und köstlich.“ 

Thuy betrachtete erneut das Glas. „Er ist wirklich gut. Hat er meditiert so wie du, Onkel Mönch?“ 
Ich mußte lachen und streichelte ihr über den Kopf. „Sagen wir einmal so: Ich ahme den Apfelsaft nach, wenn ich still sitze - das kommt der Wahrheit am nächsten.“


Thich Nhat Hanh, vietnamesischer Zen-Meister und Schriftsteller

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