Sonntag, 24. Mai 2015



Langsamkeit ist die älteste Schwester der Gewaltlosigkeit.  

Wenn ich vor 200 Jahren Rom hätte besuchen wollen, hätte ich eine längere Reise machen müssen.
Rom war nicht jederzeit - sommers wie winters
- verfügbar. Ich müßte daran arbeiten, dorthin zu kommen.
Ich
müßte das Wetter aushalten, ich müßte Gefahren bestehen.
Schritt für Schritt näherte ich mich der Stadt.
Rom war nicht nur Rom, es war auch die Reise nach Rom.
Es gab nicht den raschen, gewaltsamen Zugriff auf die Stadt, nicht ihren unmittelbaren Besitz und Genuß.
Eine zeitaufwendige und langfristige Annäherung an die Stadt war notwendig.


Näherte man sich endlich dieser Stadt, dann war sie wie eine lange gewachsene Frucht, nicht wie ein schnell eroberter Besitz.
Wir wissen aus alten Reiseberichten, wie die Sehnsucht nach Rom wuchs mit jedem Tag der Annäherung.


Goethe schreibt am Abend, bevor er in die Stadt kommt: „Morgen Abend also in Rom! Ich glaube es noch
jetzt kaum, und wenn dieser Wunsch erfüllt ist, was soll ich mir nachher wünschen!"


Die Sehnsucht der langsamen Näherung macht das Ziel mit jeder Stunde des Wartens köstlicher. Rom hatte dem Reisenden sein Eigenes und seinen Widerstand entgegengesetzt.
Er müßte an ihm arbeiten. Ebendarum hat man in jener Zeit nicht nur Berichte über Rom geschrieben, sondern Berichte über die Reise nach Rom.


Es gibt also eine Langsamkeit, einen Verzicht auf die rasche Eroberung, die mir die Dinge köstlicher machen und die mich bei ihnen beheimaten.
Und es gibt die imperiale Raschheit, Unmittelbarkeit und Direktheit, die Dingen und Menschen keine Zeit lassen und ein erotisches Verhältnis zu ihnen zerstören.


Fulbert Steffensky (in: „Das Haus, das die Träume verwaltet", Topos plus, Kevelaer 2014)

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