Montag, 18. Juni 2012


GEFANGENGEHALTEN

Eine weitere Barriere oder Fettschicht sind Ihre Abhängigkeiten und Ängste. Diese Schicht ist am leichtesten zu erkennen. Breiten Sie eine dicke Decke aus Abhängigkeit und Angst (und somit Abneigung) über alles und jeden, und sofort werden Sie nichts mehr so sehen, wie es wirklich ist. Rufen Sie sich einige Menschen ins Gedächtnis, die Sie nicht mögen, vor denen Sie sich fürchten oder an denen Sie hängen, und Sie werden sehen, wie sehr dies zutrifft.
Ist Ihnen jetzt klargeworden, dass Sie in einem Gefängnis sitzen, das aus Überzeugungen und Traditionen Ihrer Gesellschaft und Kultur, aus Vorstellungen, Vorurteilen, Abhängigkeiten und Ängsten aus Ihrer Vergangenheit besteht? Mauer um Mauer umgibt Ihre Zelle, und es scheint beinahe unmöglich, daraus auszubrechen, um mit dem Reichtum des Lebens, der Liebe und der Freiheit, der hinter Ihren Gefängnismauern liegt, in Berührung zu kommen. Und doch ist diese Aufgabe durchaus nicht unmöglich, sondern sogar einfach und schön.


Von Meister Eckhart stammt das schöne Wort: „Gott lässt sich nicht dadurch erreichen, dass man seiner Seele etwas hinzufügt, sondern indem man etwas abzieht." Sie tun nichts, um frei zu sein, sondern lassen etwas. Dann sind Sie frei.

Das erinnert mich an die Geschichte von einem irischen Gefangenen, der einen Tunnel unter der Gefängnismauer ins Freie gegraben hatte, durch den er entkommen konnte. Mitten auf einem Schulhof, auf dem kleine Kinder spielten, kroch er aus dem Tunnel ans Tageslicht. Übermütig sprang er umher und rief: „Ich bin frei, ich bin frei!"
Ein kleines Mädchen schaute ihn verächtlich an und sagte: „Das ist doch gar nichts. Ich bin vier."

Anthony de Mello

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